Montag, 20. August 2018

Drei Tag, zwei Nächte - Erfahrungsbericht vom ersten 1000er Brevet

Meine zweite mehrtätige Velotour führte mich einmal rund um die Schweiz. Dafür brauchte ich rund zwei Wochen, 2 Ruhetage und ein Zelt samt 15 kg Ausrüstung. 6 Jahre später habe ich nicht nur sowohl das eigene als auch das zugeladene Gewicht reduziert, sondern auch den Zeitbedarf: -30 kg, Total 3 kg Gepäck und 75h lauten heuer die Zahlen. Für diese Art Veranstaltung, sogenannten Brevets, schreibt der Organisator, genauer gesagt die Dachorganisation ACP, bei einer Streckenlänge von 1000 km ein Zeitlimit von 75h vor. Die Strecke ist ähnlich wie bei der eingangs erwähnten Velotour und lässt sich als Rhein-Aare-Jura-Rhone-Tessin-Rhein umschreiben:


Beim Start um halb sieben liegen noch Nebelfetzen in den Flusstälern rund um Schaffhausen. Lange geniessen kann ich die idyllische Stimmung nicht: Die Batterie meines eTap-Schalthebels meldet "battery critical". Mist, damit habe ich nicht gerechnet. Zum Glück führt die Route an meiner Haustüre vorbei. Mein erster längerer Halt ist also nach rund 100 Kilometern, wo ich neue CR 2032 Batterien einsetze und beruhigt weiter fahren kann. Nicht für weit, denn 10 Kilometer weiter wohnen meine lieben Eltern. Meine Mutter bringt mir Kaffee und leckeren Käse-Brote an den Bahnhof Däniken. Herzlichsten Dank dafür: das letzte Sandwich hat bis in den franz. Jura überlebt und schmeckte einfach fantastisch!

Bei Altenburg/D
Den Weg an den Neuenburgersee ist dank bestem Radelwetter und Rückenwind relativ schnell zurückgelegt. 10 Kilometer weiter werden die Kletter-Muskeln das erste Mal gefordert: es geht in die mir unbekannte Areuse-Schlucht ins Val de Travers. Schön schattig, schön steil aber vor allem sau schön. Am ersten Checkpoint hätte man den ganzen Tag an der Sonne liegen können, so schön ist hier. Doch zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht mal ein Viertel der Strecke zurückgelegt, von den Höhenmetern wollen wir mal gar nicht sprechen...

Im Tal der Areuse


Im Tal der Areuse

Checkpoint 1
Nach rund 30 Minuten sünnele gehts weiter. Immer noch frisch und munter, sowie beschwerdefrei. Das sollte sich am nächsten knackigen Aufstieg hinter Fleurier ändern. Den ersten Krampfansatz habe ich einfach ignoriert, quasi weggedrückt. Es sollte der einzige bleiben. Immer genügend Salz zu sich nehmen.... Hingegen beginnt es im linken Knie zu schmerzen, v.a. wenns so steil hinaufgeht. In der Ebene gehts gut.

Jura-Landschaft am Lac de Remoray

Vor Mouthe, und damit vor dem ersten Pass-Übergang, überlege ich mir, in ein Restaurant zu gehen, esse aber stattdessen eine Waffel mit Nutella an der örtlichen Provinzchilbi und lasse mich vom basslastigem Technosound des Auto-Scooters beschallen.

Chilbi in Mouthe

Im langwierigen aber nicht schwierigen Anstieg hinter Mouthe zum Col de Landoz-Neuve überlege ich mir zum ersten Mal, wie ich die Nacht verbringen könnte. Es läuft bislang recht gut. Eigentlich wäre es schade, den Flow durch eine Hotelnacht zu unterbrechen. Am nächsten Pass - dem Col de Marchairuz - treffe ich auf der "Kuhweide-Strecke" auf zwei Brevet-Fahrer. Sie überholen mich jedoch gleich wieder, weil ich mich für die einbrechende Nacht und die Abfahrt an den Genfersee vorbereite. Es ist merklich kühl geworden hier im Jura auf rund 1500 Meter über Meer.

Vallée du Joux
Rück-Licht am Col de Marchairuz

Das montierte Licht hält leider nur bis zur nächsten Bodenwelle. Es fällt zu Boden und springt in drei Teile und die Batterien irgendwo hin. Ich setze es wieder zusammen, sichere es mit dem Kordelzug der Satteltasche und fahre mit dem Ersatzrücklicht bis zur nächsten Tankstelle, wo ich mir neue Batterien und das Znacht kaufe.

Mont Blanc über dem Genfersee-Becken
Als ich Genf erreiche, bin ich schon 16 Stunden unterwegs. Die Konzentration lässt nun ein wenig nach. Ausserhalb der Agglomeration schaue ich mich deshalb zum ersten Mal um nach einer Schlafgelegenheit um. Eine erste Möglichkeit in einem zur Verkaufstheke umfunktionierten LWK-Anhänger verwerfe ich wieder - war mir irgendwie zu ausgestellt und direkt an einer Hauptstrasse. 1h weiter bin ich dann in einem kleinen Parkwald fündig geworden. Ich lege mich hin, "kuschele" mich in meine Notfalldecke und döse rund eine Tiefschlafphase lang.

Checkpoint am UCI in Aigle
Just als ich aus dem Gebüsch gekrochen kam, rauscht eine grössere Gruppe mit roten Startnummern an mir vorbei. Ich hänge mich an sie, führe sie eine gewisse Zeit an und merke dann aber, dass ich die zahlreichen Schwellen und Hindernisse rund um Thonon-Les-Bains seit einiger Zeit vergebens angezeigt hatte. Es muss die selbe Gruppe sein, die mich beim nächsten Checkpoint in Aigle beim UCI-Hauptsitz hinwies, dass dies eben ein Checkpoint sei... dabei habe bereits auf der anderen Seite des Gebäudes meine Morgentoilette erledigt, das obligate Selfie geschossen und eine Urin-Probe abgegeben.

"Wallis - Is Härz gmaislet"
Kühl ist's der Rhone entlang. Die Konturen der Walliser-Berge werden immer deutlicher. Es taget und wird wärmer. In einer Café-Bäckerei gönne ich mir ein Frühstück. Ich mache mir sorgen um das linke Knie. Die Schmerzen sind trotz Voltaren-Creme nicht wirklich verschwunden. Nach langen, flachen und zuweilen eintönigen 2-3 Stunden der Rhone entlang erreiche ich Brig und damit den Beginn des ersten von zwei Brocken; den Simplonpass. Meine Knieschmerzen werden abgelöst (oder überdeckt?) durch Anstrengung. Der ersten Teil auf der alten Passstrasse an der prallen Sonne ist anstrengend. Mit dem erreichen der "Autobahn" - die Simplon-Passstrasse ist glaub offiziell als Nationalstrasse deklariert - kommt die Form wieder zurück und es läuft immer besser. Auch weil die Strasse merklich abflacht und einige Tunnels und Gallerien Schatten spenden - und Lärm verstärken :-(

"Regen" bei Salgesch
Am Wochenende war "Ischii Party"
Zwei Brevetler zwischen Visp und Brig

Auf dem Simplon gönne ich mir die nötige Zeit um alle Bedürfnisse zu stillen: Ruhe, Essen, Trinken, Kleider trocknen und Körper abkühlen. Vor allem letzteres benötige im Anschluss an die rasante Abfahrt ins Tal von Domodossola. Die Fahrt an Lagio Maggiore zieht sich. Erschwerend zu den 30 Grad kommt eine schlechte Strasse und mühsamer Gegenwind hinzu (oder waren es die schweren Beine?). Ist der See endlich erreicht, wird der Gegenwind durch Verkehr ausgetauscht: Rushhour. Heiss ist immer noch. Ich habe eine Krise und muss mich nach der Schweizer Grenze kurz hinsetzen: ein Activator - schmeckt wie Hustensirup, macht aber wach wie 2 doppelte Espressi, und eine Kopfweh-Tablette machen mich wieder fit bis zum nächsten Checkpoint in Bellinzona.

Schweiss-nasse Kleider trocknen und essen auf dem Simplonpass
Die zwei-geteilte Auffahrt zum San Bernadino ist was vom schönsten, was ich auf dem Velo erleben durfte. Es wird Nacht. In der Ferne das Rauschen der Autobahn, in der Nähe haben die Waldbewohner zum Konzert gerufen. Man zieht zwar nicht, wo man durch fährt. GPS-Device und einem vor mir fahrenden "Brevetler" sei Dank weiss ich ungefähr immer, wie die breite Strasse verläuft. Den Gedanken, durch zu fahren, verwerfe ich bald wieder. Das wäre unvernüftig gewesen, zumal meine warme Sachen noch auf dem Simplon sind, es in San Bernadino Dorf nur 10 Grad hatte und mich in der Herrberge ein warmes Bett erwartete....
Checkpoint San Bernadino

Blick zurück auf dem San Bernadino

Im Aufstieg zum San Bernadino
Den zweiten Teil vom Bernadino nehme ich den frühen Morgenstunden in Angriff. Geniesse die Stimmung des erwachenden Tages und die Stimmung, die die tief stehende Sonne erzeugt... wieder "verliere" ich viel Zeit mit fotografieren und staunen. Viel wärmer als um Mitternacht, als ich im Dorf ankam, war es nicht. Die steilen Bergflanken verhindern, dass die Sonne die Landschaft am Hinterrhein rasch erwärmen kann. Die Regenjacke bleibt also bis nach Thusis an. Diese werde ich erst am Bodensee wieder hervorkramen müssen.

Ein weitere Teilnehmer des Brevets in seinem "Wäschpi"

San Bernadino See

Sufner See
Vor Chur holt mich die Müdigkeit ein. Ich lege mich in einer "Suchtmittel-freien Zone", aka Spielplatz mit Grillstelle, auf eine Bank und döse rund 20 Minuten. "Ausgeschlafen" mach ich mich wieder auf den Weg, doch nicht für lange: in Chur ist eine Timestation der Tortour, wo ich auf die Begleitteams von Jürgen treffe, einem Club-Kollegen von Pro Cycling Aarau, der Solo eine noch krassere Strecke im Renntempo absolvieren will. Sie attestieren mir danach, wie frisch ich noch aussehe - kein Wunder, hab ja auch grad geschlafen :-) Danke an die coolen Jungs vom Club und an den Pizzaiolo, der an der Timestation gratis Pizza backte... gesponsert von Maserati....

Powernap vor Chur
Pizza by Maserati


Danach stehen rund 60 km "Velo-Autobahn" auf dem Rheindamm auf dem Programm. Ich ziehe den Musik-Joker. Und auch so vergehen diese etwas mehr als zwei Stunden nicht grad wie im Flug, aber doch erträglich schnell. Unterwegs lassen sich erste Wolkentürme erkennen über dem Säntisgebiet. Auch der Wetterradar sagt Regenwetter voraus. Kurz nach Romanshorn ist es dann soweit: stürmischer Wind, kühlere Temperaturen und Regen sorgen für Abwechslung und Abkühlung. Die "Wie-weit-ist-es-denn-noch"-Intervalle werden immer kürzer. Zuvor hatte ich es vermieden, auf den Kilometerstand allzu schauen. Ein bewährtes Mittel auf der Langstrecke. Bald wird die "Distance-Remaining" einstellig. Das Ziel rück immer näher - und dann ist er da: der Radweg von Ramsen nach Buch, wo 28 Randonneure 62 Stunden zuvor gestartet sind zur 6-Länder-Rundfahrt.

Gewitterwolken über Appenzeller/St.Galler-Bergen
Dunkle Wolken über dem Bodensee bei Rorschach
Als letztes Lied ertönt "Bicycle Race" von Queen..., "Race" ist eigentlich unpassend. Race ist, wenn man stets unter Druck fahren muss und sich keine Pausen gönnen kann. Bei mir stand das Unterwegs sein und das Abenteuer im Vordergrund: der Weg war das Ziel in den letzten drei Tagen und zwei Nächten.