Montag, 26. August 2019

66 Stunden Glückseligkeit, Emotionen und Leiden

Jetzt bin ich also auch ein Ancien. So werden die Finisher von Paris-Brest-Paris genannt. Paris-Brest-Paris war für mich eine Aneinanderreihung von Gefühlen, Gedanken, Eindrücken und Emotionen - in meinem Fall 66 Stunden lang.

Paris-Brest-Paris ist, wenn ...

  • ... dich wildfremde Leute anfeuern und „Bonne Route“ und vor allem „Bonne Courage“ wünschen, dich Kinder abklatschen, dessen Grosseltern vermutlich schon am Strassenrand standen. 
  • ... irgendwo im Nirgendwo einer mitten in der Nacht an einer Kreuzung steht und dir den Weg weist. An der Kreuzung wärst du sonst voll vorbei gedonnert. 
  • ... durch schön geschmückte Dörfer fährst:
  • ... der erste schon nach 2km mit plattem Reifen am Strassenrand steht, andere keinen ihrer 4 (!) Ersatzschläuche hervorkramen müssen. Am Schluss sah ich rund zwei Duzend Fahrräder mit ausgebautem Laufrad am Strassenrand.

  • ... du die erste Nacht durchfährst als wäre es nichts besonderes und am Morgen kein bisschen müde bist. Ich sage nur: Adrenalin!
  • ... die ersten 100 Kilometer ohne Pause am Anschlag und ohne Pause fährst im Wissen, dass du diese Pace nicht halten kannst und hoffst, nicht dafür büssen zu müssen. Dir dabei erst nach 3h die erste kleine Bio-Pause gönnst, obwohl die Blase schon drückt seit du dich in den Startblock gestellt hattest. 
  • ... du für deinen initialen Effort büssen musst, indem es dir nach dem ersten Bissen "Tutti-Frutti" den Magen durcheinander bringt und du bis zum dritten Checkpoint dafür vier mal aufs "Klo" musst. (Wer rechnen kann, weiss wofür die Anführungszeichen stehen ;-)
  • ... du eine halbe Nacht lang beleuchtete Waden und Hinterteile anschauen musst, und dich fragst, wie viele verschiedene Rücklichter es gibt: solche von denen du halb blind wirst, andere wiederum sind kaum sichtbar, nur minim besser sind die "Disco-Lichter". Aber alle tragen ein Gillet Jaune, wie sich das in Frankreich gehört.
  • ... dich das ewige auf und ab besonders nachts zermürbt, weil du keine Ahnung hast, wann der aktuelle Anstieg aufhört und wie es danach weiter geht. Ausser du siehst weiter vorne einen Tatzelwurm aus roten Lichtern. 
  • ... deine Sinne an einem Checkpoint langsam schaler und schwächer werden, alles nur noch verschwommen und getrübt wahrnimmst. Du merkst, dass du jetzt aufhören solltest zu essen, da du es sonst wieder essen musst. Dich das Fanta wieder aufpäppelt, damit du wieder gestärkt bei vollen Sinnen in die kühle Nacht hinausfahren kannst. 
  • ... eine der Standard-Frage ist "Wo und wieviel hast du geschlafen?" und du Antworten erhältst wie "1.5 Stunden", "bin durchgefahren", "am Strassenrand", "in Bankomat-Schalterhalle", "an einem Kreisel", "unter dem Lavabo", "auf dem Velo", "habe ich überhaupt geschlafen" ... ?
  • ... die ganze Familie am Strassenrand einen Stand betreibt mit frischen Crêpes, Guetsli, Kaffee und Kuchen, z.T. nichts dafür will ausser einen Pin zu setzen auf einer Weltkarte. Andere am Strasssenrand campieren, dich anfeuern und dann auf der Rückfahrt 40 Stunden später immer noch mit dem gleichen Enthusiasmus dir Bonne Courage wünschen. Wiederum andere stellen einfach einen Tisch hin mit Leckereien wie selbst gemachten Kuchen, Iso-Getränk und Kaffee. Ja sogar eine Weinflasche meinte ich erblickt zu haben.





  • ... wenn dir egal ist, woran du dein Velo lehnst.
  • ... einige Teilnehmer ihren Anstand und Würde verlieren und am Checkpoint dem „Druck“ nicht mehr Stand halten und in die Büsche urinieren. 

  • ... einige Teilnehmer ernsthaft meinen, 1200 km auf einem Fully, Falt-Velo oder einem Fat-Bike absolvieren zu können. 

  • ... man mitten in der Nacht durch dichte Wälder und offene Felder fährt und man dabei coole Musik aus deinem Hosentelefon lauschen kann. 
  • ... dein Magen sich wieder beruhigt nach einem Viertel der Strecke, stattdessen aber Kniebeschwerden dich am effizienten vorwärts kommen hindern auf dem nächsten Viertel.
  • ... du in weiser Voraussicht Voltaren-Tabletten eingepackt hast, und heilfroh bist, dass sie wirken - mal weniger, mal mehr.
  • ... du dich nach 3 Stunden Schlaf und 600 km in den Beinen wieder auf den Rückweg machst. 
Ankunft in Brest: vor mir liegen 3h Schlaf und nochmals 600 Kilometer
  • ... man auch bei Einbruch der dritten Nacht nicht müde ist, obwohl du in den letzten 52 nur 3 Stunden liegend mit geschlossenen Augen verbracht hast. 
  • ... du die letzte Etappe in vollen Zügen geniesst, weil du nicht willst, dass es schon vorbei ist und darum „extra“ langsam fährst - oder extra nicht schnell, wäre passender formuliert.
  • ... der Wetterbericht 10 Grad Nacht-Temperatur vorhersagt, du aber nicht wirklich dafür eingerichtet bist, dass dies auch 5 Grad und Gegenwind bedeuten kann und du deshalb extra die Bremse schleifen lässt und dir davon etwas mehr Widerstand sprich Körperwärme erhoffst. 
  • ... andere Teilnehmer allerlei nützliches, unpraktisches und unsinniges dabei haben: Leselampe, Müsliriegel an Rahmen geklebt (das müssen viele sein um 20'000 kcal zu decken), Speichenreflektoren, "Kassettenschutzplastik", CO2-Patronen am Unterlenker befestigt, Teddybären als Glücksbringer, etc...  Mein persönlicher Favori ist Oleg (C031) aus Sibirien: er packt sich die Regenjacke mit einem wiederverschliessbaren Kabelbinder an den Sattel. 
  • ... eine dreiste Wirtin einem mehrfach übernächtigen Velofahrer 5€ für einen halben Liter Cola abzockt, dies dir in dem Moment aber egal ist, weil du nicht schnell und klar genug denken kannst, dass die nächste "Gratis-Tankstelle" ja nicht weit sein kann.
  • ... du mit einem Lächeln im Gesicht nach 900 Kilometern an der Kontrollstelle erscheinst und der Kontrolleur dies freudig bemerkt. Das Lächeln verschwand auf den nächsten 300 Kilometern zwischendurch öfters, hält dafür nun schon 5 Tage lang nach der euphorischen Zieleinfahrt an !!! 
Selfie an jedem Checkpoint (ausser Etappe 2) inkl. Start, Ziel und beim Znacht

So viele Kilometer hat man hier bereits in den Beinen.

Kurz nach dem Start in Rambouillet
Kleiderwechsel am Checkpoint in Loudéac auf dem Rückweg - endlich scheint die Sonne und warmen Kleider können ausgezogen werden. 


Kirche in Le Quillio



Freitag, 16. August 2019

Nach den Ferien ist vor dem nächsten Abenteuer

Eigentlich dachte ich, es bleibe noch genügend Zeit um einen Abschlussbericht über meine „Pilgerreise“ von Anfangs Juli zu schreiben. Ein Monat würde doch reichen, könnte man meinen. Doch weit gefehlt, wenn man so gerne prokastiniert wie ich ... Nun ist es soweit: ich sitze im TGV nach Paris, wo ich am Sonntag am Start des Randonneur-Klassikers schlechthin stehe: von Paris gehts einmal in die Bretange nach Brest und zurück. 1200 Kilometer sind es, die ich zusammen mit 7000 anderen Fous unter die Räder nehme, so viele wie noch nie am seit dem 1891 (!) alle vier Jahre stattfindenden Anlass. 

Mehr zu PBP: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Paris–Brest–Paris_(Brevet)

Die Zeit wird nicht gestoppt, sie läuft also auch wenn man grad in die Büsche geht sei es für das eine oder zum schlafen - vorzugsweise nicht am gleichen Ort. Der Organisator hat zwar alle 100 km Checkpoints eingerichtet in Turnhallen und dergleichen, wo man sich auf eines der 200-300 Feldbetten legen darf. Doch man liest so einiges über diese Schlafgelegenheiten, dass man dort mehr anstehe als schlafe und wenn man endlich liegt vom Betrieb drum herum auch nur mehr schlecht als recht schlafen kann. Darum fahre ich die erste Nacht durch und habe ein Hotelzimmer bei Halbzeit in Brest reserviert, in dem ich die Batterien - meine und die von den zahlreichen elektronischen Helferlein - aufladen kann. 

Ausgeschlafen werde ich dennoch nicht sein, wenn ich mich schätzungsweise gegen 4 oder 5 Uhr am Dienstag morgen aus den warmen Federn quäle und und mich in die miefende Velokluft werfe. Denn die Zeit tickt. Als Neuling habe ich (vielleicht) den „Fehler“ gemacht und mich für die 80h-Limite angemeldet. Möglich wären auch 84 oder 90 Stunden gewesen. Auch mit 90h sind die 1200 Kilometer und rund 10000 Höhenmeter noch furchteinflössend und ich habe einen Riesenrespekt davor. Aber vielleicht brauch ich auch einen gewissen Druck, um nicht unnötig Zeit zu verplempern, wie ich dies auf meinen Velotouren des Öfteren tue. Oft komme ich auf einen effektiven Fahranteil von 70% oder noch tiefer: das heisst, 2 Teile fahren, 1 Teil ausruhen. Was mich wieder zu der Wartetei auf ein freies Feldbett bringt. Ein mögliche Strategie könnte sein, die Nächte durch zu fahren und stattdessen am Tag zu schlafen, wenn der Andrang nicht so gross ist. Oder sich einfach unter einen Baum zu legen tagsüber um ein bisschen zu dösen. Das Wetter dazu würde passen. Ab Montag kein Regen, leicht bewölkt und rund 10-20 Grad. Mein Plan ist nach dem Start am Sonntag um 1615 Uhr die erste Nacht durchzufahren, so dass ich zum Einbruch der Dämmerung am Montag Abend in Brest ankommen werde. Was danach kommt, steht noch in den Sternen unter Bretagnes Nachthimmel!

Eine wahre Materialschacht: eine Hundertschaft von (kleinen) Dingen die mit nach Paris und das meiste davon auch nach Brest müssen. 

Velo verpackt bereit für die Reise im TGV nach Paris - die Tasche ist noch verkehrt 


Test mit den wasserdichten, aber mühsam anzuziehenden Velotoze Überschuhen aus Latex. Man wird dafür von innen nass da wirklich dicht (sprich nicht atmungsaktiv). Zum Glück werde ich sie nicht anziehen müssen.